Während andere von fernen Ländern träumen, suchte der WB-Korrespondent Peter Helfenstein das Abenteuer in seiner eigenen Heimat. Der 78-jährige Pensionär hat in vier Monaten seine gesamte Wohngemeinde durchwandert – Hektare für Hektare.
Chantal Bossard
Im Liegestuhl am Strand von Antalya ausspannen? «Langweilig», findet Peter Helfenstein. Shoppen im Harrods oder Ku'damm? «Längst erledigt», sagt er. Louvre, Hiroshima, Burj Khalifa? «Alles abgehakt.» Der 78-Jährige hält fest: «Wenn es um das Reisen geht, sind die Schweizer Weltmeister.» Kaum ein Flecken Erde würden die Touristinnen und Touristen auslassen. «Doch, wer war schon einmal im Hösiloch, in der Wasserfallen oder im Hauennäscht?» Manchmal, so der Hergiswiler, scheine es, «als ob wir die entlegensten Orte der Welt besser kennen als jene vor unserer eigenen Haustüre.»
Und das gab ihm zu denken. Er erinnerte sich an den Satz eines Geschichtslehrers am Lehrerseminar Hitzkirch: «Willst du eines Volkes Geschichte verstehen, musst du des Volkes Heimat sehen.» Peter Helfenstein beschloss, zu handeln – und eine aussergewöhnliche Herausforderung anzunehmen: Er wollte jede Hektare seiner Wohngemeinde Hergiswil durchwandern. «Ich wollte wissen, wie sich mein Zuhause wirklich anfühlt – nicht nur von den Strassen aus, sondern in jedem Winkel», sagt Helfenstein. Mit akribischer Planung, beeindruckender Ausdauer und der Unterstützung moderner Technik begab er sich auf Entdeckungsreise. Eine Erfahrung, die ihn nicht nur physisch an seine Grenzen brachte, sondern ihm auch eine völlig neue Sicht auf seine Heimat eröffnete.
Durch unbekanntes Terrain
Zwischen dem 11. November 2024 und dem 11. März 2025 verbrachte er 77 Nachmittage mit insgesamt 270 Stunden auf seiner Mission. Meist marschierte Peter Helfenstein mit seiner Frau Emma. Er durchquerte Wohngebiete und landwirtschaftliche Nutzflächen, kämpfte sich durch das Gestrüpp der vielen Wälder, kletterte über Zäune oder kroch unten durch. «Wenn ich etwas mache, dann richtig», betont er. Das bedeutete: 800 Kilometer Wegstrecke, 19 250 Höhenmeter – das entspricht elf Besteigungen der Dufourspitze von der Monte-Rosa-Hütte aus. Seine Strategie folgte einer klaren Logik. Zunächst umrundete er die Gemeindegrenze, dann folgten Strassen und Wanderwege. «Vergleichbar einem Puzzle, bei dem man zuerst die Ränder zusammensetzt», sagt er. Zuletzt wagte er sich an das, was in keiner Karte verzeichnet ist: unwegsame Felder, Wälder und steile Hänge. «Oft war ich auf allen Vieren unterwegs», erzählt er lachend. «Und in steilem Gelände halfen manchmal sogar alte Steigeisen.»
Geografisch betrachtet ist Hergiswil die zwölftgrösste Gemeinde des Kantons Luzern. Die Grenze misst 33 233 Meter, die Fläche beträgt über 31,3 Millionen Quadratmeter. Hergiswil grenzt an Luthern, Menznau, Romoos, Trub (BE) und Willisau. Die natürlichen Grenzen werden oft von Graten und Bächen bestimmt. Der tiefste Punkt der Gemeinde liegt in der Feldmatt (auf 614 Meter), der höchste in der Nähe des Napfgipfels auf 1380 Metern. 36 Prozent der Gemeinde sind bestockte Flächen und 59 Prozent landwirtschaftliche Nutzfläche. «All die Zahlen haben mir ein neues Bewusstsein für die Dimensionen meiner Heimat gegeben», sagt Helfenstein. Der Pensionär betont: «Ich führte mein Projekt in einer Zeit durch, während der die Weiden offenstanden und ich kein Grasland niedertreten musste.»
Der Pfahl und der Marchstein befinden sich auf der Gemeindegrenze Hergiswil/Luthern. Rechte Bildhälfte: Alter Wanderweg auf den Napf.
Unverhoffte Begegnungen
Die Tour führte Peter Helfenstein nicht nur durch wilde Landschaften, sondern auch zu den Menschen, die hier leben und arbeiten. «Die Landwirte, die ich getroffen habe, beeindruckten mich tief», sagt er. Das Heuen und Emden in steilem Gelände sei «echte Knochenarbeit». Heutzutage leisteten Maschinen zwar wertvolle Unterstützung. «Doch die angetroffenen Bauern versicherten mir, dass es ganz ohne Handarbeit auch heutzutage nicht geht», erzählt Helfenstein. «Davor ziehe ich den Hut – ohne sie wäre vieles hier schliesslich längst von Gestrüpp überwuchert.»
Ein besonderer Moment des Projekts sei die spontane Einladung in der Rossweid gewesen, wo ein Landwirt gerade seinen 50. Geburtstag feierte. «Plötzlich standen wir in einer fahrbaren Alphütte, redeten und lachten mit den Leuten.» Solche Begegnungen machen das Projekt für ihn unvergesslich.
Als die Polizei ausrücken musste
Doch nicht jede Etappe verlief ohne Zwischenfälle. Anfang Januar geriet er im dichten Wald des Länggrats in eine brenzlige Situation. Die Dämmerung setzte rascher ein als erwartet und plötzlich war er orientierungslos. «Es war stockdunkel und ich wusste: Von diesem steilen Gelände komme ich alleine nicht weg.» Er rief die Polizei. «Gott sei Dank hatte ich Empfang!» Nachdem er die Koordinaten durchgab, spürten ihn die «Retter in Not» schnell auf. Helfenstein räumt ein: «Das war eine wertvolle Lektion.» Sein Fazit: «Nie wieder ohne Tageslicht abseits bekannter Wege.»
Die spielerische Herausforderung
Helfensteins ungewöhnliches Vorhaben war nicht nur eine physische Herausforderung, sondern auch eine spielerische Entdeckung. Mit der iPhone-App «Strut» konnte er seine Fortschritte verfolgen. Das GPS-gestützte Programm teilt die Welt in kleine 0,03 Quadratkilometer grosse Kacheln auf. «Jeweils am Vorabend einer Wanderung plante ich mithilfe der Landeskarte die Herangehensweise, um abgelegene Kacheln zu erreichen», erklärt Helfenstein. Jedes Mal, wenn eine neue Fläche betreten wurde, färbte sie sich in der App ein. «Wenn sich auf dem iPhone eine schwer zugängliche Kachel braun färbte, haben meine Frau und ich das Ereignis mit Abklatschen gefeiert», berichtet Peter Helfenstein. «Das Aufdecken von unerforschtem Territorium vermittelt ein positives Gefühl und fühlt sich an, wie wenn man beim Goldwaschen in der Enziwigger ein Goldnugget findet.» Helfenstein ist überzeugt, dass solche spielerischen Konzepte mehr Potenzial haben. «In der Schweiz gibt es bereits Apps von Krankenkassen, die Menschen zu mehr Bewegung motivieren. Warum nicht zusätzlich ein System wie Strut nutzen, das Wanderer zu unbekannten Ecken ihrer Umgebung führt?»
Mit 1221 besuchten Kacheln in der Gemeinde Hergiswil ist Helfensteins Projekt fast abgeschlossen. Eine einzige Kachel hat sich auf der App aber noch nicht grün verfärbt: Ein winziger Fleck, verborgen im Quellgebiet der Enziwigger. Viermal hat Peter Helfenstein versucht, ihn zu erreichen – und viermal musste er umkehren. Ein unerreichbarer Punkt inmitten seines durchwanderten Heimatbodens. «Vielleicht soll es genau so sein», sinniert er. «Vielleicht braucht es einen Ort, der einfach nur existiert, ohne dass ich ihn je betreten habe.» Er zögert kurz, dann sagt er mit einem Lachen: «Oder ich lasse mich mit dem Helikopter darüberfliegen!» Doch tief in seinem Inneren weiss Peter Helfenstein: Es ist nicht das vollständige Erobern, das ihn antreibt – es ist das Suchen. Denn solange irgendwo noch eine unerforschte Kachel wartet, gibt es immer einen Grund, die Wanderschuhe zu schnüren und sich auf den Weg zu machen. Denn dass Hergiswil schön ist – das habe er schon immer gewusst. Doch erst durch seine Wanderungen hat er seine Heimat wirklich kennengelernt. «Manchmal suchen wir das Besondere in der Ferne und übersehen, was direkt vor unseren Füssen liegt», sagt er. Die verwunschenen Waldlichtungen, die rauschenden Bäche, die sanften Hügel und steilen Hänge – all das, was er Tag für Tag durchquert hat, ist nicht nur vertrauter Boden, sondern ein Stück Heimat.
(Mit freundlicher Genehmigung des Willisauer Boten)