Wenn der Tag zur Nacht wird

Peter Helfenstein

Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, stehe ich immer noch ganz unter dem Eindruck des gestrigen Erlebnisses und ich glaube zu träumen. Aber eins nach dem andern.


Da ich mich am 11. Mai 1724 bei der letzten totalen Sonnenfinsternis in der Schweiz verspätet hatte und bei der nächsten am 3. September 2081 im Jenseits sein werde, reiste ich mit meiner Familie in die «Todeszone» nach Süddeutschland, um dort die Sonnenfinsternis live mitzuerleben. Wir hatten via Internet in Heidenheim an der Brenz Hotelzimmer reserviert, damit wir am Tag der Finsternis bereits in der Totalitätszone waren und nicht zuerst aus der Schweiz anreisen mussten. Es war ja auch nicht voraussehbar, wie sich am fraglichen Mittwochvormittag der Strassenverkehr abwickeln würde, denn so viele Menschen waren noch nie gleichzeitig quer durch Mitteleuropa auf einem etwa 100 Kilometer breiten Streifen versammelt. Und alle wollten sie Augenzeuge des gigantischen Spektakels sein.


Eine Schwester, zwei Brüder, der eine mit Frau und Sohn, der andere mit zwei Arbeitskollegen trafen dann am 11. August ebenfalls in Geislingen an der Steige ein. Warum ausgerechnet in Geislingen? Geislingen ist eine Stadt mit etwa 26'000 Einwohnern und liegt 33 km nordnordwestlich von Ulm. Sie befindet sich an der Eisenbahnstrecke Stuttgart-München und die Deutsche Bahn überwindet hier die steilste Steigung auf ihrem Schienennetz. Das war aber nicht der Grund, weshalb wir die totale Sonnenfinsternis dort erleben wollten. In Geislingen steht nämlich die Burgruine Helfenstein. Die Grafen «von Helfenstein» werden auch in Goethes Werk «Götz von Berlichingen» erwähnt. Von dieser Burgruine aus, an der das Familienwappen der Helfensteiner, ein indischer Elefant mit gewaltigen Stosszähnen, prangt und die an einem prächtigen Aussichtspunkt liegt, geniesst man einen fantastischen Blick auf die sogenannte Fünftälerstadt Geislingen und den weiten Horizont. Kommt hinzu, dass Geislingen mitten in der Schattenspur lag und dort die Finsternis am längsten dauern würde. Leider war das Wetter so, dass zeitweise Schirme gegen den Regen und nicht Brillen wegen der Finsternis gefragt waren. Der Wolken wegen konnten wir den Diamantring, den Lichterglanz der Korona und die Sterne nicht beobachten. Dennoch hat sich die Reise nach Geislingen gelohnt, auch wenn sich die Sonne, vor die sich langsam der Mond schob, nur etwa fünf Mal kurz zeigte.


Wir kamen u. a. mit einer Gruppe Hobbyastronomen aus den Niederlanden ins Gespräch, die ihre Super-Teleskope aufstellten. Sie richteten ihre teuren Geräte allerdings umsonst ein, denn, wie gesagt, die Sonne war nur für ganz kurze Zeit durch einige Wolkenlücken sichtbar. Interessanterweise fanden sich auch einige andere Schweizer auf der Burg ein.


Etwa drei Minuten vor der totalen Sonnenfinsternis (98% Abdeckung durch den Mond) war es noch hell, aber von da an legte sich eine gespenstische Stimmung über die Landschaft. Wie der ungläubige Thomas beschwörte meine Schwester wiederholt, dass sie es einfach nicht glaube, dass es hier demnächst stockdunkel würde. Die Hartnäckigkeit meiner Schwester in Bezug auf das, was uns bevorstand, liess auch in mir gewisse Zweifel aufkommen, dass sich die Tagesweisse schlagartig in Nachtschwärze verwandeln werde. Da ich noch nie eine totale Sonnenfinsternis erlebt hatte, konnte ich mich nur auf Erlebnisberichte über Sonnenfinsternisse anderer abstützen, die besagten, dass der Tag zur Nacht wird. Deshalb belehrte ich meine Schwester: «In einer Minute wird es hier stockdunkel sein!» Sie aber entgegnete energisch: «Und ich glaube es einfach nicht, dass es hier finster wird.»


Aber dann ging alles sehr schnell. Um etwa 12.33 Uhr überfiel uns der Kernschatten mit doppelter Schallgeschwindigkeit, sozusagen von oben nach unten. Es war, wie wenn jemand das Licht der Sonne mit einem Dimmer innert Sekunden ausschalten würde. Schlagartig legte sich stockfinstere Nacht auf die Gegend! Es wurde sehr still und alle Anwesenden - es befanden sich sehr viele Menschen auf der Burgruine - verstummten in diesem Moment. Es ging kein Wind mehr, die Wolken blieben scheinbar stehen, in der Fünftälerstadt Geislingen gingen die Lichter an, die Autos hielten an. Für zwei Minuten war alles wie verklärt, und es herrschte eine grosse, ehrfürchtige Stille. Auch meine Schwester schwieg jetzt und als sie sich gefasst hatte, rief sie begeistert aus: «Das gibt es doch nicht!» Ergriffen standen wir da und staunten und staunten. Des bedeckten Himmels wegen wurde der Effekt der Finsternis noch zusätzlich verstärkt. In diesen zwei Minuten der totalen Finsternis kam ich mir irgendwie als Teil des unendlichen Universums vor, was in mir Staunen und Ehrfurcht vor der Schöpfung aufkommen liess. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter.


Obwohl die Wolkendecke die Sicht auf die «Schwarze Sonne» mit der leuchtenden Korona verhinderte, wurde das Ereignis zu einem Erlebnis der Superlative. In diesen zwei Minuten fühlte ich mich trotz der Menschen um mich herum ziemlich allein, hilflos, sprachlos, ratlos. Ich hatte Zeit für mich selber und ich wünschte, es bliebe noch länger dunkel als zwei Minuten.
Nach 2 Minuten 17 Sekunden verliess uns der Kernschatten und raste Richtung Osten weiter, der Tag brach an, heute zum zweiten Mal, und es wurde ebenso schnell wieder hell wie es dunkel wurde. Offenbar erleichtert darüber, dass der Weltuntergang nicht stattgefunden hatte, klatschten die Menschen spontan Beifall und begrüssten das lebenswichtige Licht und die Wärme unserer Sonne. Oder galt der Beifall unserem Schöpfer, der alles so herrlich erschaffen hat?

Bild 1

Der erste Diamantring funkelt auf und kündigt die Totalität an. Das Bild entstand südlich von Freising (also nördlich München) und wurde mir freundlicherweise von Ralf Schindler, den ich 2009 in Shanghai kennenlernte, zur Verfügung gestellt.

Bild Ralf Schindler

Bild 2

Sekunden später: Die Korona erstrahlt in ihrem vollen Glanz.

Bild Ralf Schindler

Der Schriftsteller Adalbert Stifter hat am 8. Juli 1842 in Wien eine totale Sonnenfinsternis miterlebt. Die folgenden Auszüge aus seinem Bericht könnten das von mir Erlebte nicht besser schildern. Jeder Satz, den er von seinen: Erlebnis über die Sonnenfinsternis schrieb, stimmt auch für mich Wort für Wort:
Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiss, und im einundfünfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes. So ist es mir mit der totalen Sonnenfinsternis ergangen, welche wir in Wien an: 8. Juli 1842 in den frühesten Morgenstunden bei dem günstigsten Himmel erlebten. Da ich die Sache recht schön auf dem Papiere durch eine Zeichnung und Rechnung darstellen kann, und da ich wusste, um soundso viel Uhr trete der Mond unter der Sonne weg und die Erde schneide ein Stück seines kegelförmigen Schattens ab, welches dann wegen des Fortschreitens des Mondes in seiner Bahn und wegen der Achsendrehung der Erde einen schwarzen Streifen über ihre Kugel ziehe, was man dann an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten in der Art sieht, dass eine schwarze Scheibe in die Sonne zu rücken scheint, von ihr immer mehr und mehr wegnimmt, bis nur eine schmale Sichel übrigbleibt, und endlich auch die verschwindet - auf Erden wird es da immer finsterer und finsterer, bis wieder am andern Ende die Sonnensichel erscheint und wächst, und das Licht auf Erden nach und nach wieder zurrt vollen Tag anschwillt - dies alles wusste ich voraus, und zwar so gut, dass ich eine totale Sonnenfinsternis im voraus so treu beschreiben zu können vermeinte, als hätte ich sie bereits gesehen.


Aber, da sie nun wirklich eintraf, da ich auf einer Warte hoch über der ganzen Stadt stand und die Erscheinung mit eigenen Augen anblickte, da geschahen freilich ganz andere Dinge, an die ich weder wachend noch träumend gedacht hatte, an die keiner denkt, der das Wunder nicht gesehen.
Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten, es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden. Ich stieg von der Warte herab, wie vor tausend und tausend Jahren etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte, verwirrten und betäubten Herzens. (...)


Ich habe immer die alten Beschreibungen von Sonnenfinsternissen für übertrieben gehalten, so wie vielleicht in späterer Zeit diese für übertrieben wird gehalten werden; aber alle, so wie diese, sind weit hinter der Wahrheit zurück. Sie können nur das Gesehene malen, aber schlecht, das Gefühlte noch schlechter, aber gar nicht die namenlos tragische Musik von Farben und Lichtern, die durch den ganzen Himmel liegt - ein Requiem, ein Dies irae, das unser Herz spaltet, dass es Gott sieht und seine teuren Verstorbenen, dass es in ihm rufen muss: «Herr, wie gross und herrlich sind deine Werke, wie sind wir Staub vor dir, dass du uns durch das blosse Weghauchen eines Lichtteilchens vernicht kannst und unsere Welt, den holdvertrauten Wohnort, einen fremden Raum verwandelst, darin Larven starren!»...

...es war ein Moment, da Gott redete und die Menschen horchten...

...es kamen, wie auf einmal, jene Worte des heiligen Buches in meinen Sinn, die Worte bei dem Tode Christi: „Die Sonne verfinsterte sich, die Erde bebte, die Toten standen aus den Gräbern auf und der Vorhang des Tempels zerriss von oben bis unten. ( ..)

Für mich steht heute schon fest: Am 22. Juli 2009 reise ich - so Gott will - nach Shanghai in China, um dort die längste Sonnenfinsternis des 21. Jahrhunderts zu erleben. Dann wird man die schwarze Sonne während der Rekorddauer von 6 Minuten 39 Sekunden bestaunen können. Wer einmal erlebt hat, wie die Sonne mitten am Tag verschwindet, wird süchtig nach dem Schattenkick. Also, auf Wiedersehen im Jahr 2009 in Shanghai!
Ihr ergebener Peter Helfenstein